Visual Scribing begegnet Wissenschaft
10.08.2017
Was passiert, wenn Visual Scribing und Wissenschaft sich begegnen? Was geschieht, wenn die Welt der Bilder und die Welt der Worte zusammenkommen? Forscherinnen und Forscher am IASS setzen sich derzeit mit diesen Fragen auseinander. Sabine Soeder, Graphic Facilitator und Gründerin von CoCreativeFlow, wurde vom Institut eingeladen, als IASS-Fellow in dem Forschungsprojekt „Ko-Kreation und zeitgemäße Politikberatung“ mitzuarbeiten. Dieses untersucht die Anwendung und Integration ko-kreativer Verfahren im Bereich Politikberatung und politischer Entscheidungsfindung.
Visual Scribing – eine Methode zur Unterstützung und Begleitung ko-kreativer Prozesse durch Bildsprache – gehört zu den Ansätzen, die im Rahmen dieses Projekts untersucht werden. Ihr Potenzial wurde schon vor über zehn Jahren von Akteuren aus dem privaten und öffentlichen Sektor in Europa erkannt. Dennoch hat sich der Ansatz des Visual Scribing in akademischen Kreisen noch nicht in größerem Maßstab etabliert. Das wirft mindestens zwei Fragen auf: Können Visualisierungen („visuals“ auf Englisch) Forscherinnen und Forscher bei ihrer Arbeit unterstützen? Und wie können sie in ihrer Einfachheit und Unmittelbarkeit zu komplexen Forschungsprozessen beitragen?
Visualisierungen machen Komplexität zugänglich
Eine Unterart von Visual Scribing, die auf Wissenschaftskonferenzen zunehmend Anwendung findet, ist das Graphic Recording. Hier werden zeitgleich Kernaussagen von Präsentationen und Diskussionen in Wort und Bild festgehalten. Diese Aufgabe gehört wohl zu den größten Herausforderungen, vor denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stehen: die Ergebnisse einer Forschungsarbeit, die mehrere Jahre umspannt, kompakt zu destillieren. Visualisierungen können dabei eine wichtige Rolle spielen. Aber für die Wissenschaft besitzen sie, jenseits der Unterstützung von Dokumentationsprozessen auf einer Konferenz, ein noch größeres Potenzial. Visualisierungen machen Komplexität sichtbar und damit zugänglich. Bilder können uns Dinge sagen, die wir weder sehen noch hören.
Unterstützt von Sabine Soeder betrachten wir derzeit dieses Potenzial aus einer besonderen Perspektive: Was wäre, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am IASS Visual Scribing nutzen und in ihre Arbeit integrieren würden? Was wäre, wenn sich die Wissenschaft selbst einer visuellen Sprache bedienen würde? Alle zwei Monate versammeln sich Forscherinnen und Forscher am Institut zu einer „Research-and-Draw”-Sitzung unter Anleitung von Sabine. Die von den Teilnehmenden genannten Beweggründe sind vielfältig: „Wie können wir komplexe Konzepte in etwas umwandeln, das von einem breiten Publikum verstanden wird?“ „Wie können Visualisierungen uns beim Gedankenaustausch mit anderen Akteuren helfen?“ „Wie kann ich mein eigenes Denken visuell strukturieren?“
„Es geht nicht um schöne Bilder“
Durch einen erfahrungsorientierten Ansatz stehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schnell vor einem leeren Flipchart und sind – nach einem kurzen Input zu Zeichentechniken – bereit, Visualisierungen forschungsbezogener Begriffe oder Konzepte zu zeichnen. „Es geht nicht um schöne Bilder“ – betont Sabine jedes Mal – „es geht darum, Bilder zu nutzen, um den Prozess der Sinnbildung zu unterstützen“.
In einer der letzten Sitzungen wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gebeten, ihr eigenes Forschungsprojekt zu zeichnen. Insbesondere sollten sie dessen bekannte und unbekannte Aspekte visualisieren, und so einen „quick-and-dirty“ Entwurf für ihr Forschungsdesign entwerfen.
Statt einen Literaturüberblick zu schreiben, fingen die Teilnehmenden an zu visualisieren und Bilder mit Schlüsselwörtern zu verbinden. Am Ende zeigten sie ihre Ergebnisse einer Person, die mit diesem speziellen Projekt nicht vertraut war. „Auf diese Weise habe ich 200 Prozent mehr gelernt, als wenn ich nur Worte gehört hätte“, lautete eine Reaktion am Ende der Sitzung. Durch die Visualisierung der Kerndimensionen eines Projekts können Lücken oder Probleme erkannt werden, die zuvor nicht sichtbar waren: „Anfangs habe ich erst einmal Fische gezeichnet, die für das individuelle Verhalten von Akteuren standen. Dies steht zurzeit im Mittelpunkt unserer Untersuchung. Nach einer Weile ist mir aber klar geworden, dass im Forschungsdesign etwas Grundlegendes fehlt: der Fluss oder die umgebende Struktur, in der diese Fische schwimmen!“
Konkrete Metaphern für abstrakte Konzepte
Wenn Visual Scribing der Wissenschaft begegnet, werden wir sachte gezwungen, unseren Denkprozess zu verändern. Wir greifen auf eine Praxis zurück, mit der einige von uns in ihrer Kindheit nicht selten ganze Tage gefüllt haben und betreten eine andere Sphäre der Kreativität. Wir werden ermuntert, uns mit dem Kern der Frage zu beschäftigen, die wir untersuchen wollen, unsere Gedanken zu Papier zu bringen und den Bereich theoretischer Konzepte hinter uns zu lassen. Abstrakte Konzepte finden damit konkrete Metaphern. An einem Institut, an dem täglich interdisziplinäre Teamarbeit praktiziert wird, können Visualisierungen helfen, unterschiedliche Annahmen sichtbar zu machen und die Kommunikation zu verbessern. Sie können uns darin unterstützen, als Team an einem Strang zu ziehen. Und zu guter Letzt begleiten sie die Erarbeitung gemeinsamer Ideen.
Visual Scribing kann und soll andere fundamentale Forschungstechniken und -methoden nicht ersetzen. Doch kann es in verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses eine tragende Rolle spielen: angefangen bei der Herausforderung, Klarheit über die Forschungsfrage zu gewinnen, bis hin zur Besprechung der Ergebnisse mit anderen Akteuren. Visualisierungen erlauben uns, Verbindungen zwischen verschiedenen Themen herzustellen, die wir zuvor nicht gesehen haben, und ermuntern uns, tiefer in Fragen einzutauchen, die wir nicht ausreichend beleuchtet haben. Einfachheit eröffnet uns damit den Zugang zu Komplexität aus einem anderen Blickwinkel und aktiviert neue Denkweisen. Die nächsten “Research-and-Draw”-Sitzungen am IASS werden neue Denkanstöße bieten, um die Synergien zwischen Wissenschaft und Visual Scribing weiter zu erforschen.
Foto oben: Sabine Soeder